Wenn man klar sehen kann

Als ich 21 Jahre alt war, sprach ich mit einer Freundin darüber, warum es destruktive Menschen gebe, nachdem ich das Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität von Erich Fromm gelesen hatte. Ich erwähnte die Hitleranalyse, die ich in diesem Buch las, und dass ich nach dem Lesen noch immer kaum darüber Bescheid wisse, warum Hitler zu einem der schlimmsten Massenmörder werden konnte. Daraufhin machte mich die Freundin auf das Buch von Alice Miller Am Anfang war Erziehung aufmerksam, das gerade neu herausgekommen war. Sie erzählte mir von den allgegenwärtigen vernichtenden Lebenserfahrungen, die der kleine Adolf kritiklos durch seine Eltern erleiden musste, was ihn später zum erwachsenen Monster machte. Seine Gefühle musste er als Kind mit aller Macht unterdrücken, um den elterlichen Anforderungen gerecht zu werden.

 

Zuerst nahm ich die gleiche Haltung ein wie die meisten Menschen. Kann es wirklich sein, dass die Gründe so einfach aufzufinden sind? Für die meisten sind sie es ganz offensichtlich nicht und für mich, wie gesagt, zuerst auch nicht. Die klare logische Schlussfolgerung von Alice Miller über die Entstehung der menschlichen Destruktivität stellte alle bis dahin mühselig, rein intellektuell aufgenommenen Theorien von den anderen gesellschaftlich anerkannten Wissenschaftlern total in Frage. Ich las das Buch mit größter Neugier und es erschien mir während des Lesens, als ob endlich jemand dieselbe Sprache sprechen würde wie ich. In Alice Miller fand ich einen Menschen, der das aussprechen konnte, wozu ich noch nicht fähig war, aber das ich schon immer fühlte.

 

Plötzlich fiel mir der Unterschied zwischen ihr und den gesellschaftlich anerkannten Wissenschaftlern auf. Sie hatte das so immens wichtige Einfühlungsvermögen und die gesellschaftlich anerkannten Wissenschaftler argumentierten dagegen rein intellektuell, als ob sie versuchten, das Leben in einem anderen Universum mithilfe ihrer erlernten Theorien zu erklären. Ich empfand das Gleiche wie in meiner Kindheit. Die gefühlserfrorenen Erwachsenen meinten über mich urteilen zu können, während ich dabei nur überwältigende Einsamkeit empfand. Sie schauten einfach durch mich hinweg. Keiner dieser eingefrorenen Erwachsenen war fähig, meine Gefühle wahrzunehmen.

 

Ich begriff, dass es den Wissenschaftlern als Kind genauso ergangen sein musste. Sie befinden sich auf einer nie endenden Flucht vor den eigenen Gefühlen. Sie machen das natürlich nicht bewusst, sondern handeln genauso, wie sie es von Ihren Eltern erlernten. Anstatt ihr Unbehagen gegenüber ihren Eltern zu artikulieren, passten sie sich brav deren emotionalen Ignoranz an. Sie hatten als Kind einfach nicht die Möglichkeit, Ihr Unbehagen zu artikulieren, denn es war das Normalste der Welt, dass ihr Gefühlszustand ignoriert wurde, weshalb er irgendwann keine Rolle mehr spielte. Eigentlich hätte ihr Gefühlszustand ihre Eltern darüber aufklären müssen, wie die zwischenmenschliche Bindung zu ihnen wirklich war und auch noch immer ist. Weil sie ihn jedoch nicht wahrnehmen können, ist ihre Kognition empfindlich getrübt. Einfachste logische Schlussfolgerungen sind für sie nicht mehr möglich. Die Fakten, die sie fleißig für ihre Forschungen sammeln, können sie nur entsprechend ihren frühen lebensgeschichtlichen Erfahrungen interpretieren.

 

Doch ich fand glücklicherweise als Kind auch andere Erwachsene, die meine Gefühle wahrnahmen. Sie nahmen mich ernst, weshalb meine Wahrnehmungsfähigkeit erhalten blieb.

Es sind inzwischen schon fast 30 Jahre vergangen. Alice Miller ist tot. Den Medien war ihr Tod nur eine Randnotiz wert. Tagesschau und Heute hielten es gar nicht für nötig, über ihren Tod zu informieren. Die FAZ veröffentlichte sogar einen Vernichtungsfeldzug gegen sie, der als Nachruf verkleidet wurde.

 

© Michael Dressel 6/2010