„Killerspiele“

Was macht die Faszination von „Killerspielen“ und Gewaltfilmen aus? Wenn man den Menschen zuhört, die sich von so einem Zeitvertreib angesprochen fühlen, erfährt man durchaus sehr rationale Begründungen. Sie stellen das Erlernen von nützlichen Strategien in den Vordergrund, die wichtig für das Leben seien. Derjenige, der solche Spiele beherrsche, könne sich besser im Leben zurechtfinden. Mit derartigen beschönigenden Rechtfertigungen werden unbewusst die erlernten Schemata aus der Kindheit offenbart, die den Gefühlstod verursacht haben. Die Gefühle, die die „strategische“ Gewalt eigentlich als lebensverachtend werten müssten, sind dabei wie ausgeschaltet. Sie sind wie in einem Eisfach eingesperrt.

 

Warum Menschen dazu fähig sind, den Gefühlstod als etwas ganz Normales aufzufassen, behandle ich in meinem Artikel Zum Begriff Verdrängung.

 

Ein Schüler schreibt diesbezüglich in der Wochenzeitschrift Die Zeit folgenden erhellenden Kommentar: „Ich will nur nocheinmal anmahnen nicht wieder den Sündenbock bei Computerspielen und/oder aggressiver Musik zu suchen, denn beide können niemals der Grund für eine solche Tat [Amoklauf, Anm. MD] sein. Sie mögen einen Teil des Weges bereiten, aber wahrscheinlich nur deshalb, weil die Konsumenten hier der Wirklichkeit entfliehen, und sich abreagieren, können (Spiele) und weil die Musik sich immerhin mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt - möglicherweise als einzige Instanz.“ Der Leserbrief des Schülers belegt, dass er schon ein Stück weit das Problem zu erahnen scheint. Aber warum versuchen die „Konsumenten“, der Wirklichkeit zu entfliehen und warum spricht ausgerechnet die aggressive Musik ihre Gefühle an? Solche naheliegenden Fragen stellt er sich seltsamerweise nicht. Wenn man sich die Texte der aggressiven Musik näher anschaut, dann wird jedoch einiges klarer. Die Metal-Band Dope beispielsweise betitelt ein Lied von ihr: „Die, Motherfucker, Die!“ (stirb, Drecksau, stirb!). Ein Ausschnitt des Textes lautet übersetzt in etwa so: „Es werde mir leid tun, habt ihr gesagt, tja, es tut mir nicht leid. Peng, Ihr seid tot!“ Wie kann es sein, dass diese lebensverachtenden Sätze die Gefühle von jungen Menschen ansprechen?

 

Ein von der FAZ interviewter Psychologe sagt zu diesem Phänomen fast das gleiche wie der oben erwähnte Schüler, als ob die beiden sich vorher abgesprochen hätten: „Das kommt auch nur bei bestimmten Persönlichkeiten zum Tragen, nämlich solchen, die den ‚Als-ob-Charakter’ von Internet-Spielen nicht erkennen, sondern das eins zu eins nehmen.“ Warum die „bestimmten Persönlichkeiten“ den „Als-ob-Charakter“ von Internet-Spielen nicht erkennen und deswegen angeblich gewalttätig werden, dies beantwortet der vermeintliche Experte indessen nicht, obwohl die Beantwortung dieser Frage dringend erforderlich wäre, um das Problem zu verstehen und die geeigneten Gegenmaßnahmen einleiten zu können. Beide, sowohl der Schüler als auch der Psychologe wollen ganz offensichtlich nicht die Gründe sehen, die die Anziehungskraft von Killerspielen und aggressiver Musik ausmachen. Warum wollen sie das nicht? Sie wollen es vermutlich deswegen nicht, weil sie dann wieder mit den scheußlichen Erfahrungen aus der eigenen Kindheit in Berührung kämen. Stattdessen wiegen sie sich im scheinbar unverletzbaren Status des Erwachsenseins in Sicherheit. In ihren Köpfen geistert folgender Gedankengang: Da die schlimme Zeit der Kindheit längst vorbei ist und niemand mehr ihnen die schrecklichen Dinge zufügen kann, die sie als abhängige Kinder durch ihre geliebten Eltern klaglos über sich ergehen lassen mussten, haben sie nunmehr als Erwachsene nichts mehr damit zu tun. Doch gerade wegen der Verdrängung werden sie von der Vergangenheit hartnäckig beherrscht, da die eingesperrten Gefühle der Wut und des Hasses solange nach einer Ausdrucksmöglichkeit suchen, bis sie endlich ernst genommen werden. Die von ihren Eltern verursachte Einkerkerung der authentischen Gefühle bewirkt ihre auffällige Gefühlsarmut. Sie können deshalb die Realität nur noch aus dieser Gefühlsarmut heraus wahrnehmen. Sie dürfen nicht das Absurde wahrnehmen, wie sie von ihren Eltern zu ihrem Besten gequält wurden.

 

Welche Funktion nehmen dann in diesem Zusammenhang die martialischen Protagonisten von Computerspielen, Gewaltfilmen und aggressiver Musik ein? Die aufgezwungene Anpassung an das elterliche Diktat hat die vage Ahnung beim Kind zur Folge, dass es nie so sein darf, wie es ursprünglich einmal auf die Welt gekommen ist. Aus dieser schwachen, untergeordneten Position gegenüber den starken, allmächtigen Eltern entsteht eine hoffnungslose Ausweglosigkeit. Ein Entrinnen aus der Zwangsanpassung erscheint absolut unmöglich. Das Kind wähnt sich dazu verdammt, alles zu erdulden, was ihm seine Eltern an Schmerzen zufügen. Doch plötzlich taucht am Horizont eine mächtige Gestalt auf, die wie ein großer Rächer und Beschützer gegen das Böse ankämpft. Die Gestalt muss deswegen mächtig sein, weil der Jugendliche sich als Kind die gleiche Macht gewünscht hätte, dsss seine Bedürfnisse von seinen Eltern ernst genommen worden wären. Aber warum meint er, dafür mächtig sein zu müssen? Weil er als Kind von seinen Eltern lernte, nur der Mächtige könne seine Interessen durchsetzen. Die mächtige Gestalt verhilft ihm dazu, endlich die ausweglose Situation zu verlassen. Der Jugendliche möchte begreiflicherweise nicht mehr das hilflose, verletzbare Kind sein. Eigentlich wünscht er sich, selbst die mächtige Gestalt zu sein. Schließlich „ballert“ er selbst mit den todbringenden Waffen herum. Da er aber nach wie vor seine Eltern nicht als die Bösen wahrnehmen darf, lenkt er seinen abgespaltenen Hass auf die virtuellen Sündenböcke in den „Killerspielen“. Er „ballert“ um sein Leben, denn er will nie wieder in die Position des schwachen, wehrlosen Kindes geraten. Anstatt eine schützende innere Instanz im Wege der Selbstreflexion aufzubauen, muss eine Stellvertreterfigur die verlorene Würde mit gnadenloser Gewalt wieder herstellen. Die einst in ihrer Kindheit gequälten Jugendlichen sind geradezu süchtig nach solchen Abfuhrmöglichkeiten. Darum werden in den einschlägigen Kreisen, stets ein derartiger martialischer Zeitvertreib in Schutz genommen. Kinder dagegen, die von ihren Eltern wirklich respektiert und geliebt wurden, wenden sich mit Grauen von einem solchen Zeitvertreib ab.

 

In der aggressiven Musik kommt durch den monströs klingenden Gesang, die audiosensorische Erfahrung mit dem einst hasserfüllt schreienden Vater wieder hoch. Nur sind diesmal die Vorzeichen ins Gegenteil verschoben: Der Vater wird von der Stellvertreterfigur mit Schreien traktiert. Die Wut auf den Vater kann nur auf diese verdrehte Weise ausgedrückt werden. Wer kennt nicht die von der lauten Musik empfindlich getroffenen Eltern. Daher konnte der Schüler sagen, dass sich derartig markerschütternde Musik mit den „Gefühlen der Konsumenten“ beschäftigen würde.

 

Können „Killerspiele“ und Gewaltfilme wirklch die Ursache für die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen sein, wie es viele Verantwortliche aus der Politik behaupten? Was verbirgt sich hinter einer solchen Behauptung? Hinter ihr verbirgt sich der Zwang, den Heiligenstatus der Eltern unbedingt aufrecht zu halten. Deshalb weisen die Politiker die Schuld den Killerspielen zu. Wenn sie sich mit der wahren Geschichte ihrer Kindheit befassen würden, dann schwände auf einmal der Heiligenstatus ihrer Eltern. Dann wären diese nicht mehr die Heiligen, sondern die Dämonen. Da sie aber die wahre Geschichte ihrer Kindheit verleugnen, damit der Heilgenstatus ihrer Eltern bewahrt bleibt, bezahlen sie einen sehr großen Preis dafür. Den Preis der Gefühlsunterdrückung und des Realitätsverlusts. Könnte dabei auch die Angst vor den eigenen Eltern eine Rolle spielen? Auch dieses Gefühl wäre unpassend, denn wie könnten Heilige Angst verbreiten? Die nicht bewusste, abgespaltene Angst, die solche Politiker vor ihren heiligen Eltern verspüren, gipfelt in der verheerenden Vorstellung, selbst ein „unwertes Leben“ zu sein. Insofern ist es nur zu verständlich, dass sie sich aus dem Status des „unwerten Lebens“ befreien wollen. Sie konzentrieren ihre ganze Energie darauf, als öffentliche Autoritätsperson endlich die ersehnte Achtung zu bekommen, die ihnen ihre Eltern seit jeher vorenthielten. Und das ausgerechnet von den Jugendlichen, deren Gewaltbereitschaft angeblich von „Killerspielen“ und Gewaltfilmen herrührt. Deswegen verkörpern „Killerspiele“ und Gewaltfilme die willkommenen Bösewichte, damit die Politiker die Eltern von jeder Schuld freisprechen und deren Heiligenstatus aufrechterhalten können. 

 

Wollen wir wirklich das Zerstörungswerk der Eltern an deren Kindern weiterhin zulassen? Nicht nur die Kinder würden damit schweres Leid auf sich nehmen, sondern unsere Gesellschaft insgesamt. Wir alle waren einmal Kinder. Wie lange wollen wir uns noch fragen: Warum weint die Welt durch die Augen der Kinder?

 

© Michael Dressel 1/2007