Eltern, die ihre Kinder töten

Schaut man sich die Zeitungen an, so werden fast täglich von Kindestötungen berichtet. Dabei könnte der Eindruck entstehen, als ob die Rate der Kindestötungen zugenommen hätte. Aber das spielt eigentlich eine zweitrangige Rolle, wenn man bereit ist, auf die Täter zu schauen. Die Täter sind nämlich fast immer die Eltern. Die Geschichte der Kindestötungen ist erschreckenderweise die folgende: Vor 2000 Jahren, in der Antike, durften die Eltern noch ganz legal ihre Kinder töten, wenn sie sie nicht mehr wollten. Die Reichen übergaben sie ihren Bediensteten, die sie in der Wildnis aussetzten und die Armen warfen sie einfach in die Flüsse. Ich empfehle für weitere aufhellende Informationen die Lektüre von Lloyd deMause Hört ihr die Kinder weinen. Bezüglich der Eltern, die heute ihre Kinder töten, dokumentiere ich zunächst einige wenige Fälle aus der jüngeren Vergangenheit, um das Grauen ins Bewusstsein zu bringen und ein Gefühl dafür zu vermitteln, was ein noch völlig wehrloses Kind in den letzten Momenten seines erst gerade begonnenen Lebens durchmacht.

 

Eine Einundzwanzigjährige tötet im Juli 1996 auf dem Nürburgring ihr Kind gleich nach der Geburt mit dem Schlauch der Campingdusche. Im Februar 1998 malträtierte eine Mutter in Mannheim ihren neun Monate alten Säugling zu Tode. Er erlitt Blutergüsse am ganzen Körper, mehrere gebrochene Rippen, einen gebrochenen Arm und einen tödlichen Riss an der Leber. Eine Mutter aus Flensburg erwürgte im April 1999 ihren zehnjährigen Sohn und erschlug anschließend ihre acht Jahre alten Zwillingstöchter mit einer Axt. Eine Frau in Hünfelden-Dauborn wickelte im August 2000 ihr gerade auf die Welt gebrachtes Kind in Handtücher und steckte es in zwei Plastiktüten. Die Leiche ihres Kindes entsorgte sie im Abfalleimer des Badezimmers. Weil in Köln im Sommer 2000 ein 6 Monate alter Säugling wie am „Spieß“ schrie, fügte seine Mutter ihm einen Schädelbasisbruch durch einen Kopfschlag zu und schüttelte ihn später zu Tode. Ein zweijähriger Junge stirbt in Stendal im Februar 2006 an Unterernährung und wurde in einer Tonne des elterlichen Grundstücks gefunden. Ein dreijähriges Mädchen aus dem bayrischen Weißenborn erlitt ein unvorstellbares Martyrium bis zu seinem Tod im Oktober 2006. An seinem Körper wurden Zigaretten ausgedrückt, es wurde öfter bewusstlos geprügelt, sein Kopf wurde wiederholt auf den Tisch geschlagen und es wurde auch mehrfach gegen die Wand geschleudert. Das Mädchen stirbt schließlich an den Folgen der bestialischen Misshandlungen. Noch im selben Monat findet die Polizei die Leiche eines Zweijährigen mit zertrümmerten Schädel und gebrochenen Beinen im Kühlschrank seiner Eltern.

 

Die an Kindern alltäglich ausgeübte Gewalt umschreibt Michael Havemann vom Landeskriminal­amt Berlin im O-Ton einer Sendung von frontal21 folgendermaßen: „Also das sind hier Tatortbilder, die wir letztendlich mal zusammengestellt haben, um zu zeigen, wie brutal Eltern mit ihren Kindern umgehen. Das erste sind hier Verbrü­­­­hun­gen in einer Badewanne. Verletzungen, die mit einem Bügeleisen zugefügt wurden. Eine Zigarettenkippe, die auf einer Kinderhand ausgedrückt wurde. Und letztendlich dieses Kind ist an seinen Verletzungen, die man im Gesicht ja deutlich sieht, verstorben.“ Die Liste ließe sich endlos fortsetzen. In Deutschland werden durchschnittlich drei Kinder wöchentlich von den eigenen Eltern umgebracht.

 

Die von mir aufgezählten grauenvollen Vorkommnisse sind einige wenige Beispiele dafür, welchem unerbittlichen, manchmal sogar tödlichen Terror Kinder durch die eigenen Eltern ausgesetzt sind. Sehr viele Kinder schweben, im Grunde genommen, in täglicher Lebensgefahr, der sie nicht entrinnen können. Viele betroffene Kinder begehen später Suizid oder richten ihren abgespaltenen Hass gegen Sündenböcke. Daher brauchen sie unbedingt den fühlenden Außenstehenden, der lebensrettend sein oder sie als tickende Zeitbombe entschärfen kann. Glücklicherweise sterben nur wenige Kinder an den Folgen der elterlichen Misshandlungen. In der Regel überlebt das Kind das lang andauernde Martyrium der Gewalt, aus dem es irgendwann von seinen Eltern entlassen wird, um dann selbstverständlich die alleinige Verantwortung dafür zu tragen, wenn es als tickende Zeitbombe explodiert. Die Eltern, die aus ihrem Kind eine tickende Zeitbombe gemacht haben, bleiben auf diese Weise als die schlimmsten Verbrecher unerkannt und straflos.

 

Ich möchte hier die Gründe für die destruktiven Handlungen der Eltern gegen das eigene Kind skizzieren und auf die Homepage von Alice Miller verweisen, wo sie den Fall Jessica sehr einfühlsam behandelt. Vor allen Dingen beschreibt sie in einer sehr klaren Sprache die Entwicklungsgeschichte, warum Eltern zu gefühllosen Monstern werden und dazu fähig sind, das eigene Kind umzubringen.

 

Was macht Eltern dermaßen empfindungslos gegenüber den grausamen Qualen, die sie dem eigenen Kind zufügen? Wieso können sie nicht wahrnehmen, was ihr Kind durch ihr Tun erleidet? Nicht nur wir Menschen, sondern alle Lebewesen haben von Natur aus niemals die Neigung zu zerstörerischer Aggression gegen die eigenen Artgenossen. Aber bei uns Menschen stellt diese Form der Aggression aus irgendeinem Grund eine abnormale Ausnahme dar. Mittlerweile liegen die Gründe dafür auf dem Tisch und jedermann könnte auf sie zugreifen, wenn er wollte. Wir müssen genau erkennen, wie zerstörerische Gewalt entsteht und welche große Lebensgefahr sie für uns alle bedeutet, damit wir nicht immer wieder erneut die Gründe fur sie erschaffen. Erst wenn wir die Ursachen für zerstörerische Gewalt genau wahrnehmen, können wir den unaufhörlichen Teufelskreislauf der Zerstörung von Menschenleben durch Menschenhand stoppen. Doch wie wir von den Medien laufend mitbekommen, sind ausgerechnet die sogenannten Experten nicht gewillt zu wissen, warum so viele Eltern diesen zerstörerischen Hass gegen die eigenen Kinder hegen. Stattdessen unterbreiten sie der Öffentlichkeit ihre mentale Verwirrung, indem sie behaupten, dies alles sei unerklärbar. Wie kann es sein, dass die Desinformation durch die sogenannten Experten gesellschaftlich nicht nur toleriert, sondern sogar offensichtlich erwünscht ist? Es gibt dafür nur einen plausiblen Grund: Je mehr Menschen diesen zerstörerischen Hass in sich tragen, desto größer ist dessen gesellschaftliche Breitenwirkung. Und da der Hass latent als etwas ganz Normales in unserer Gesellschaft hingenommen wird, verschwindet seine Entstehungsgeschichte völlig aus dem Blickfeld. Darum können die sogenannten Experten voller Überzeugung behaupten, die Gründe für Kindestötungen seien unbekannt.

 

Wenn wir am Beginn unseres Lebens, als wir noch vollkommen abhängige Kinder waren, von unseren Eltern lernen mussten, den eigenen Willen gegen den ihren zwangsweise auszutauschen, dann begreifen wir ihren Willen als den eigenen. Die Eltern zwingen ihrem Kind für gewöhnlich deshalb ihren Willen auf, weil sie meinen, alles besser zu wissen. Ihr Kind sei angeblich ohne ihre Belehrungen nicht lebensfähig. In Wirklichkeit verhält es sich jedoch so: Jedes Kind ist ohne seine Eltern als die primären zwischenmenschlichen Bezugspersonen am Anfang des Lebens nicht überlebensfähig. Es braucht unbedingt deren Fürsorge und Liebe um sich angstfrei zu einem intelligenten, fühlenden Menschen zu entwickeln. Muss sich dagegen ein Kind im Widerspruch zu seinen genuinen Gefühlen und Emotionen blind den destruktiven elterlichen Belehrungen unterordnen, kann es sich nicht zu einem intelligenten, fühlenden Menschen entwickeln.

 

Wir alle kennen die Phantasie des Vampirismus, in der wir uns in ein empathieloses, monströses Wesen verwandeln, das wir ursprünglich nicht waren. Wenn unsere Eltern uns lehren, der Starke dürfe ungestraft den Schwachen beherrschen, quälen oder sogar töten, dann verinnerlichen wir diese Botschaft als das sozial erwünschte Verhalten, das unserem Leben zu eigen wird. In einer Art Koexistenz schlum­mert jenseits unserer bewussten erlernten lebensverachtenden Existenz unser naturge­ge­­benes Wesen mit unseren wertvollen menschlichen Anlagen und kann sich nicht lebensbejahend weiterentwickeln. Unser naturgegebenes Wesen wird allenfalls dann leicht berührt, wenn wir auf fühlende Menschen treffen. Irgendwie scheinen sie uns auf besondere Art und Weise anzusprechen. Leider geschieht das äußerst selten, da die Welt fast nur aus Vampiren besteht. Wenn Sie diese Zeilen lesen, kommen sie Ihnen sicherlich irgendwie sehr bekannt vor. Denn auf symbolischer Weise werden die von mir beschriebenen zwischenmenschlichen Lebenser­fahrungen in abertausenden Büchern, Bildern und Filmen verarbeitet. In der Sprache der Symbole verlieren jedoch die Fakten ihren realen Bezug. In der Realität dagegen machen gefühlsentleerte Eltern aus ihren Kindern „gefühlsentleerte Monster“. Genauso wie Vampire Menschen zu ihresgleichen machen.

 

Die Mütter, die ihre Kinder töten, reinszenieren den von den eigenen Eltern begangenen Seelenmord, als sie selbst auch noch völlig abhängige Kinder waren. Sie überlebten zwar den Seelenmord, doch starb ihr naturgegebenes Wesen. Später wenden sie minutiös die erlernten destruktiven Lektionen, die den Tod ihres naturgegebenen Wesens  bewirkten, zwanghaft gegen das eigene Kind an. Weil die primäre Bindung zwischen Eltern und Kind untrennbar mit dem Seelenmord verknüpft ist, kommt es gerade gegenüber den Menschen, denen wir uns nah verbunden fühlen, oft zu destruktiven Gewaltausbrüchen.

 

Meistens wird bei Müttern, die ihr Kind misshandeln oder töten, behauptet, sie handelten aus einer extremen Überforderung heraus. Wie selbstverständlich verbindet man tödliche Gewalt mit Überforderung. Kann das wirklich stimmen? Falls das stimmen würde, müssten massenweise Tötungsdelikte in vielen Lebensbereichen stattfinden, denn in unserer Leistungsgesellschaft gibt es unzählige überforderte Menschen. In Wirklichkeit geht es jedoch um das verinnerlichte Machtverhältnis zwischen Eltern und Kind. Viele Mütter sehen in ihrem Kind das schwache abhängige Geschöpf, das sie einst selbst einmal waren. Das destruktive Verhalten der eigenen Eltern zerstörte damals ihre ursprüngliche Persönlichkeit. Da sie sich trotz der destruktiven Erfahrungen auf die Seite ihrer mächtigen Eltern stellen und nichts mit dem schwachen abhängigen Geschöpf zu tun haben wollen, reagieren sie ihren abgespaltenen Hass blind auf das eigene Kind ab. Zudem dient die Behauptung der Überforderung dazu, die Mutter auf keinen Fall zu beschuldigen. Tötete jedoch eine Mutter anstelle ihres Kindes einen anderen Erwachsenen, würde der anschließende Strafprozess sicherlich ganz anders verlaufen als derjenige wegen der Tötung des eigenen Kindes. Bei der Tötung des eigenen Kindes wollen die gerichtlich bestellten Gutachter, gleich welchen Geschlechts, den Glauben an die gute Mutter unbedingt aufrechterhalten. Sie lassen sich deswegen die absurdesten Begründungen für die Tötung eines Kindes einfallen. Dagegen hätte dieselbe Mutter, die einen anderen Erwachsenen töten würde, von Anbeginn die gleichen schlechten Karten wie ein x-beliebiger Fremdtäter. Denn dann handelt es sich bloß um eine gewöhnliche Frau. In diesem Fall würden die Gutachter zweifellos sie als die Böse entlarven. Doch wie kann die geliebte Mutter die Böse sein? Das ist wohl das Unbegreiflichste für jedermann.

 

Wenn wir die gesamte Gesellschaft mit der oben beschriebenen Reflexion betrachten, dann sehen wir, wie sie von diesem menschenverachtenden Verhalten durchflutet ist. Wer kennt nicht den rücksichtslosen Autofahrer, der uns beinahe überfährt, den kaltherzigen Chef, der uns mit Kündigung droht, den einfühlungslosen, unverstän­digen Arzt, der nichts über die Ursachen unserer Erkrankung wissen will, den egomanen Fabrikanten, der sich auf Kosten seiner Angestellten bereichert usw.

 

Insofern werden seit jeher Desinformation über die menschliche Destruktivität von den Redakteuren der Medien und den sogenannten Experten verbreitet, damit sie der Öffentlichkeit ihre Amnesie über die eigene desaströse Lebensgeschichte unbemerkt vor Augen halten können. Wollen wir wirklich wie Vampire unsere Kinder schädigen? Wollen wir uns wirklich dem Schwachsinn der Redakteure und der sogenannten Experten fügen und keinerlei eigenständige Gedanken und Meinungen entwickeln? Uns bleibt nicht viel Zeit, denn unser Leben ist nicht unendlich.

 

© Michael Dressel 11/2006