Konsumterror und das Bedürfnis nach Halt

In unserer pluralistischen Gesellschaft mag zwar für den einzelnen Menschen die Möglichkeit geben, zwischen verschiedenen Rollen und Gestaltungsmöglichkeiten im Leben zu wählen oder sogar völlig neue Wege auszuprobieren. Doch sind sehr viele nicht dazu fähig, die richtige Wahl zu treffen oder den für sie richtigen Weg einzuschlagen.

 

Das mag daran liegen, daß sich an der Kindererziehung seit Beginn des letzten Jahrhunderts nicht viel verändert hat. Nach wie vor dominiert das autoritäre Beziehungssystem, was vor allem durch das Machtgefälle zwischen Eltern und Kind gekennzeichnet ist. Natürlich steht das Kind nicht mehr so rechtlos wie früher da. Mittlerweile wird es als eigenständiges Individuum angesehen, welches eigene Bedürfnisse und einen eigenen Willen hat. Daher müßte diese Veränderung bezüglich der Einstellung zum Kind auch unsere Gesellschaft gleichermaßen verändert haben. Jedoch meint noch 90% der Weltbevölkerung, dass gelegentliche Schläge ein probates Erziehungsmittel seien (Olivier Maurel, La Fessée, La Plage 2001). Liegt dieser Umstand möglicherweise daran, daß sich an der Einstellung zum Kind in Wirklichkeit gar nicht viel verändert hat?

 

Die überwiegende Mehrzahl der Menschen hat keinerlei Probleme damit, sich kritiklos Normen zu unterwerfen, egal wie destruktiv diese auch sein mögen, soweit sie von Autoritätspersonen gepredigt und eingefordert werden. Das nationalsozialistische Deutschland mag dafür als Beispiel für ein völlig unreflektiertes Abreagieren des abgespaltenen Hasses auf sozialadäquate Ersatzpersonen dienen. Die Menschen, die sich vom Nationalsozialismus angezogen fühlten, verbrämten die menschenverachtende Rassenpolitik und den beinahe vollendeten Völkermord am jüdischen Volk als ein Naturgesetz des Lebens.

 

Menschen, die unter solchen Wahrnehmungsverzerrungen leiden, ignorieren unbewußt ihre authentischen Gefühle und laufen Gefahr, sie auf dem Friedhof der geschundenen Seelen zu begraben. Sie lassen andere stellvertretend das erleiden, was sie einst selbst in der frühen Kindheit an Scheußlichkeiten erfuhren. Die dabei hervorgerufenen Gefühle des quälenden Schmerzes spalten sie auf unbewußter Ebene ab, um ein Leben mit den Eltern, die mit der verlogenen Maske der Fürsorge und Liebe auftreten, zu ermöglichen. Später als Erwachsene suchen sie sich die geeigneten Ersatzobjekte als Projektionsfläche – zum einen die Vaterfigur für die kritiklose Unterordnung und zum anderen das sozialadäquate Ersatzobjekt für die erbarmungslose Entladung des abgespaltenen Hasses. Der abgespaltene Haß kann auch gegen sich selbst gerichtet sein, sofern kein geeignetes Ersatzobjekt als Projektionsfläche gefunden wird. Doch was sich in der Kindheit als Überlebensstrategie erwies, erweist sich im Erwachsenenalter als Fluch. Denn durch die Abspaltung der authentischen Gefühle verliert man fatalerweise die Empathie für andere und für sich selbst. Die ursprünglich authentischen Gefühle haben sich völlig entfremdet und existieren wie ein Fremdkörper im eigenen Selbst. Zugleich leiden darunter die kognitiven Fähigkeiten, weil die als schmerzvoll wahrgenommenen elterlichen Übergriffe als erforderliche Erziehungsmaßnahmen umgedeutet werden (kognitive Dissoziation).

 

Die Not, unter der Willkürherrschaft der lieblosen Eltern überleben zu müssen, zwingt das Kind dazu, deren lebensverachtenden Eigenschaften als die eigenen anzunehmen. Auf diese Weise kommt es zur Übertragung der lebensverachtenden Eigenschaften von Generation zu Generation. Schließlich wird davon die ganze Gesellschaft infiziert und es werden alle erdenklichen und unerdenklichen destruktiven zwischenmenschlichen Handlungen möglich. Die Ausschaltung der ursprünglich authentischen Gefühle führt sowohl zur kognitiven als auch zur emotionalen Orientierungslosigkeit, weil die alltäglichen Erfahrungen nicht mehr eigenständig als gut oder schlecht bewertet werden können. Dadurch ist das Einfühlen in das Leid eines Anderen unmöglich. Es fehlt das Einfühlungsvermögen, weil man auf seine ursprünglich authentischen Gefühle nicht mehr zurückgreifen kann. Es verbleiben nur die angelernten Schemata aus der Kindheit als Wertungsmaßstäbe, wo der Starke den Schwachen beherrscht.

 

Wegen dieser Umstände sehen sich viele Menschen, die aufgrund einer autoritären Erziehung wenig Selbstbewußtsein entwickelt haben und mit einer großen Portion emotionaler  Orientierungslosigkeit ausgestattet sind, einer Gesellschaft gegenüber, ohne genau zu wissen, wie sie ihr Leben produktiv verwirklichen können. Die Unfähigkeit, eine produktive Wahl für ein glückliches Leben zu treffen, korreliert mit dem Verlangen nach moralischer Grundorientierung und nach einem verbindlichen Wertesystem. Insofern weist dieses Verlangen einen prothetischen Charakter auf, da der Betroffene nicht mehr bei sich selbst zu Hause ist. Stattdessen ergreifen die von den Eltern eingepflanzten Charaktereigenschaften, die durch die autoritäre und gewalttätige Erziehung gekennzeichnet sind, wie ein parasitärer Fremdkörper Besitz von ihm und zehren sein ursprüngliches Wesen nach und nach aus. Das hierbei verinnerlichte Körperwissen sagt ihm auf unbewußter Ebene, daß Gewalt ein geeignetes Mittel für die Erziehung sei, Respekt nur dem Stärkeren gebühre, dem Schwächeren nicht, d.h. letztlich der Starke stets über den Schwachen herrsche. Bei solchermaßen geprägten Menschen reduziert sich die Einstellung zum Leben auf der Überzeugung, dass verbindliche Werte das Leben verbessern könnten. Gleichermaßen verschafft ihnen der religiöse Glaube die Hoffnung, daß ein schöneres Leben nach dem irdischen Ableben auf sie warten würde. Auf dieser Grundlage kann begreiflicherweise kein eigenverantwortliches Leben geführt werden.

 

Die geschilderten lebensgeschichtlichen Umstände können die Anfälligkeit dafür schaffen, sich dem Konsumterror hilflos und ohne adäquate  Abwehrmöglichkeit auszuliefern. Mangelnde Bedürfnisbefriedigung in der frühen Kindheit führt regelmäßig im Erwachsenenalter zur Konsumsucht, indem man die latente Unbefriedigtheit mit Konsumgütern zu kompensieren versucht. Viele erwachsene Menschen sind aufgrund der von den Eltern am Lebensbeginn schuldig gebliebenen Bedürfnisbefriedigung in ihrer Bedürftigkeit auf einem frühkindlichen Zustand stehen geblieben. Ersatzobjekte im Erwachsenenalter sind jedoch für die Befriedigung frühkindlicher Bedürfnisse deshalb untauglich, weil dafür primär die Eltern zuständig gewesen wären. 


Darum paßt das Kind sein Verhalten auf die Erwartungen der Eltern an (love orientated discipline technique), damit seine ständigen Bemühungen um die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse doch noch irgendwann von ihnen belohnt würden. Es hing dann ganz allein von den Eltern ab, ob sie positiv oder negativ auf die ständigen Bemühungen ihres Kindes reagierten. Das Kind war somit dem Willen seiner Eltern völlig ausgeliefert und bleibt oftmals ein Leben lang an ihnen gekettet, weshalb es sich auch zukünftig weiterhin - inzwischen schon längst erwachsen geworden - darum bemühen wird, die vorenthaltene Bedürfnisbefriedigung doch noch irgendwann von ihnen erfüllt zu bekommen. Doch die Versäumnisse der Vergangenheit lassen sich im Erwachsenenalter nicht mehr auf die Art und Weise korrigieren, als ob man noch ein kleines Kind wäre. Vor allem läßt sich das Geschehene nicht mehr aus der Welt schaffen.

 

Genau an diesem Punkt interveniert die moderne Werbestrategie. Sie verleiht einem Produkt die Aura der oben beschriebenen frühkindlichen Erlebniswelt mit dem entscheidenden Unterschied, daß sich die Geschichte beim nunmehr Erwachsenen, der sich aber mental noch in der Rolle eines kleinen Kindes befindet, diesmal zum Guten wendet. Durch das Kaufen eines bestimmten Produkts unterliegt er nun der werbestrategischen Illusion, endlich die seit seiner frühen Kindheit ständig begehrte Anerkennung und Liebe zu bekommen, was meistens eine materielle Fixierung der Bedürfnisse nach sich zieht. 


Die materielle Fixierung pervertiert nicht selten in eine Aufwands- und Konsumkonkurrenz, die sich u. a. in der Leistungsgesellschaft widerspiegelt. Der dabei aktive, aber dem Bewußtsein verborgene psychodynamische Mechanismus stellt sich wie folgt dar: Niemand möchte das im Stich gelassene, ungeliebte Kind sein. Stattdessen bewahren wir uns lieber das Bildnis der liebenden Eltern, die unsere Bedürfnisse vielleicht doch noch irgendwann befriedigen, sofern wir uns nur genügend anstrengen. Dafür müssten wir nur deren Willen genügen. Doch am Ende müssen dabei zwangsläufig der eigene Wille, die eigenen Bedürfnisse und schließlich das eigene Wesen auf der Strecke bleiben. 


Vor diesem Hintergrund konstruiert die Werbung eine Erlebniswelt voll jener Objekte, die uns für unser Glück noch fehlen und stellvertretend unsere „bedingungslos liebenden“ Eltern repräsentieren. Insofern könnte man die illusionäre Bilderwelt der Werbung als bewußtseinskonformer bezeichnen, da Unberechenbarkeit, Willkür oder Ambivalenz, denen man in der frühen Kindheit ausgesetzt war, scheinbar keinen Platz in ihr finden. 


Doch das Blatt wendet sich schnell zu einem zwanghaften Selbstläufer, sobald sich die Konsumsucht einstellt. Die Sucht spiegelt die frühe Kindheitskonstellation wider, als wir ständig um die Liebe unserer Eltern bemüht waren. Hier sind auch die ursächlichen Zusammenhänge für die Aufwands- und Konsumkonkurrenz aufzufinden. 


Plötzlich befinden wir uns wieder inmitten der desaströsen Situation des abhängigen Kindes, als unsere Gefühle und Bedürfnisse von unseren Eltern einfach wie Luft behandelt wurden. Die dadurch aufgezwungene Abspaltung der authentischen Gefühle verursacht später im Erwachsenenalter die diffuse Empfänglichkeit, sich von illusionären Werbestrategien beeinflussen zu lassen, welche das Begehren nach dem jeweils angepriesenen Produkt wecken sollen. Im Erwerb dieses Produkts scheint sich dann die seit früher Kindheit ständig ersehnte Bedürfnisbefriedigung zu erfüllen. Ob es im gegenwärtigen Augenblick tatsächlich unsere wirklichen Bedürfnisse sind, wissen wir indes aus den oben genannten entwicklungsgeschichtlichen Umständen nicht. Somit entsteht der mehr oder weniger unbewußte Konsument, der sich von den illusionären Werbestrategien beliebig manipulieren läßt und letztlich keinen eigenen Willen mehr zeigt. Einen kleinen Rest von eigenem Willen äußert er allenfalls in der ästhetischen Auswahl. Seine „Orientierung“ und seinen „emotionalen Halt“ findet er folgerichtig  im Konsum.

 

Die Eltern, die ihrem Kind Anerkennung, Liebe, Befriedigung primärer Bedürfnisse usw. schuldig geblieben sind, tragen für diesen Prozeß die Hauptverantwortung.

 

© Michael Dressel 5/2002 (ursprünglich verfasst als Teil eines Aufsatzes im Jahr1996)