Kinder, die ihre Eltern töten

Natürlich bringen nicht nur Eltern ihre Kinder um, sondern auch Kinder ihre Eltern, wenn auch viel seltener als umgekehrt. Um dieses Phänomen zu verstehen, wäre es sinnvoll, zuvor meine Beiträge Eltern, die ihre Kinder töten sowie Amokläufe in Emsdetten und Winnenden zu lesen. Denn die Tötung der Eltern stellt den Schlussakt der Vorgeschichte dar, den ich dort beschrieben habe. Insbesondere im Beitrag Amoklauf in Emsdetten habe ich den Mechanismus dargestellt, der für die explosionsartige Entladung des abgespaltenen Hasses verantwortlich ist.

 

Wie kann es nun dazu kommen, dass Kinder ihre Eltern töten? Sie waren es doch schließlich, die diesen todbringenden Hass erzeugten. Man könnte deswegen meinen, die Kinder hätten den richtigen Adressaten für ihren Hass ausgewählt. Doch hier ist der abgespaltene Hass die Antriebsfeder für die Tötung der Eltern und nicht das Gefühl des Hasses. Das Gefühl des Hasses hätte niemals einen tödlichen Ausgang. Warum ist das Gefühl nicht tödlich und warum verwandelt es sich plötzlich in eine zerstörerische Tat? Ursprünglich ist das Gefühl des Hasses der zum Ausdruck gebrachte reaktive innere Zustand des Kindes aufgrund der erfahrenen scheußlichen Handlungen durch seine Eltern. Schon aus dieser Definition wird deutlich, dass dem Gefühl des Hasses nichts Zerstörerisches anhaftet. Dagegen hat die Tat eine ganz andere Bedeutung. Sie entsteht aus einer ausweglosen Situation, in der die Eltern die reaktiven Gefühle des Kindes wie Luft behandeln. Gleichzeitig vermitteln sie ihm die Botschaft, es werde ein guter Mensch, wenn es sich ihren Geboten und Verboten unterordne. Aber tatsächlich bestehen die Gebote und Verbote der Eltern aus deren scheußlichen Handlungen, die das Kind nachhaltig in seiner Integrität schädigen. Der dadurch verursachte reaktive Hass ist jedoch für die Eltern das falsche bzw. verbotene Gefühl, da sie davon überzeugt sind, alles richtig zu machen. In Wirklichkeit aber bedeuten die Gebote und Verbote die totale Infragestellung des Kindes. Da das Kind den reaktiven Hass nicht ausdrücken darf, bleibt er in seinem Körper stecken. Sein Gefühl findet folglich nicht den natürlichen Ausdruck beim Verursacher, weswegen es nach einer Ausdrucksmöglichkeit woanders sucht. Wenn das Kind immer wieder von seinen Eltern drangsaliert wird und nicht die Möglichkeit hat, dem entrinnen zu können, dann verwandelt sich das reaktive Gefühl des Hasses in die zerstörerische Tat des abgespaltenen Hasses als dessen körperliches Abbild der erlittenen scheußlichen zwischenmenschlichen Erfahrungen. Plötzlich brechen alle Schutzdämme. Darum drückt sich das verbotene reaktive Gefühl explosionsartig in Gestalt der scheußlichen zwischenmenschlichen Erfahrungen durch die Eltern aus. Auf diese Weise verwandelt sich das reaktive Gefühl in eine zerstörerische Tat. Ein Beispiel mag diesen Mechanismus veranschaulichen:

 

Der jugendliche Paul widersetzt sich dem Willen seiner Eltern, den Mund beim Abendessen zu halten. „Du nervst“, meinen sie zu ihm. Sie wollen in Ruhe zu Abend essen. Paul versteht die Welt nicht mehr. Er will doch nur ein Gespräch mit seinen Eltern. Darum versucht er erneut, das gewünschte Gespräch mit ihnen zu finden. Er sagt: „Ich will mit euch reden! Hört mir endlich zu! Glaubt ihr wirklich, dass wir beim Abendessen nicht miteinander reden können? Wieso glaubt ihr so einen Unsinn?“ Da flippt plötzlich Pauls Vater aus und schlägt ihn mit der flachen Hand ins Gesicht. Wütend schreit Paul seinen Vater an: „Wieso schlägst du mich?“ „Du hältst deine Klappe, du unerzogener Bengel. Du bringst mich zur Weißglut!“, schreit sein Vater zurück. Paul ist aufgebracht, er ist außer sich vor Wut, so oft hat er schon erlebt, dass er wie gegen eine Wand redete, wenn er Kontakt zu seinen Eltern suchte. Nie hörten sie ihm wirklich zu. Stattdessen schlägt ihm sein Vater ins Gesicht. „Du brutales Schwein“, hält Paul mit gerötetem Gesicht seinem Vater entgegen. „Jetzt reicht es, du undankbare Missgeburt. Sei endlich still“, antwortet ihm sein Vater. Dabei haut er mit voller Wucht auf den Tisch. Paul jammert laut und wiederholt: „Du brutales Schwein!“ Pauls Vater kontert: „Ich werde Dir zeigen, brutales Schwein. Du hast wohl keinen Respekt vor mir? Solange du in meinem Haus wohnst, hast du das zu tun, was ich dir sage!“ Er schlägt seinen Sohn erneut ins Gesicht. Paul findet keine Worte mehr, ihm stockt der Atem, er bekommt kaum noch Luft. Was soll er seinem Vater noch sagen? Er empfindet nur Hass. Er spürt dunkel, wie sein Hass sein drangsaliertes Bewusstsein durchflutet. In blinder Raserei rammt er ihm ein Messer in den Bauch. Es lag zufällig vor ihm griffbereit auf dem für das Abendbrot gedeckten Tisch. Der Vater bricht zusammen und eine unheimliche Stille breitet sich aus. Pauls Mutter sitzt stumm und regungslos an dem gedeckten Tisch.

 

Um ganz ehrlich zu sein, in mir stieg beim Schreiben dieser Szene ein sehr beklemmendes Gefühl hoch. Ich kann es kaum fassen, dass so etwas passieren kann. Mir kommt das Ganze total fremd und absurd vor. Die von mir ausgedachte Szene mag vielleicht ein wenig übertrieben erscheinen, dennoch gibt es Bluttaten, die aus viel nichtigeren Gründen begangen werden. Im Grunde herrscht in der von mir erzählten Szene eine ähnliche Konstellation vor, wie ich sie bei Sebastian B. beschrieben habe. Dieser lernte, seine reaktiven Gefühle des Hasses gegenüber seinen Eltern angesichts ihrer Übergriffe und Ignoranz zu unterdrücken und fand demzufolge nicht den richtigen Adressaten für seine reaktiven Gefühle. Zudem hatte er das Selbstverständnis, auf der untersten Stufe innerhalb der familiären Hierarchie zu stehen. Daher richtete er seinen abgespaltenen zerstörerischen Hass gegen sich selbst und beging Selbstmord. Beim jugendlichen Paul ist die familiäre Konstellation in einem wesentlichen Punkt anders. Er ist scheinbar in der Lage, seine Gefühle des Hasses gegenüber seinem Vater auszudrücken. Zumindest findet er anfänglich die passenden Worte. Doch sein Vater behandelt ihn wie Luft. Er schlägt seinen Sohn sogar mehrmals ins Gesicht. Für den Vater stellen die Gefühle seines Sohnes, die zu diesem Zeitpunkt den authentischen inneren Zustand darstellen, bloß eine große Belastung dar. Er begreift gar nicht, dass er selbst die Gefühle seines Sohnes verursacht hat. Trotzdem versucht Paul weiterhin, sein Gefühle des Hasses mitzuteilen. Doch sein Vater reagiert darauf nur mit fortwährendem Unverständnis und fortwährender Gewalt. Da werden plötzlich in Paul auf unbewusster Ebene seine im Körper aufgestauten scheußlichen Erfahrungen angemahnt, als er oft wegen seiner reaktiven Gefühlsäuße­rungen misshandelt wurde und er dabei verinnerlichte, der Stärkere dürfe gegenüber dem Schwächeren immer so handeln. Die Lektion, die er dabei lernte, hieß, der Stärkere habe das Sagen und könne schalten und walten wie ein Gott. Paul nimmt seine ganze Kraft zusammen und meint, er selbst könne genauso handeln, wie es einst sein allmächtiger Vater mit ihm tat. Seine reaktiven Gefühle verwandeln sich in die abgespaltene Form des Hasses und sind in diesem Moment der Motor für das Ausagieren der erfahrenen väterlichen Grausamkeiten. Er ergreift wie in Trance ein Messer und sticht in blinder Raserei zu. Auf zerstörerische Weise verwirklicht sich das vom Vater erlernte Schema. Paul greift zur Gewalt, um seine Interessen durchzusetzen, so wie es sein Vater ihm immer vorgelebt hatte. Im Gegensatz zu Sebastian B. hat er nicht verinnerlicht, dass er sich in einer aussichtslosen Position befindet, aus der es kein Entrinnen gibt,. Für Paul ist sein allmächtiger Vater das Vorbild. Folglich ist er in der Lage, auf seinen Vater seinen abgespaltenen Hass zu richten. Es findet diesbezüglich nur eine Verlagerung bei der Auswahl des Ersatzobjektes statt. Anstatt gegen sich selbst, so wie es Sebastian B. tat, richtet Paul seinen abgespaltenen Hass gegen seinen Vater. Dass es sich beim Opfer diesmal gleichzeitig um den Verursacher des abgespaltenen Hasses handelt, stellt den hierbei aktiven Mechanismus der Gewaltent­stehung trotzdem nicht in Frage. Denn wären Pauls authentische Gefühle von seinem Vater ernst genommen worden, hätte eine ehrliche Kommunikation zwischen beiden stattfinden können. Paul hätte sich in seiner Existenz nicht in Frage gestellt gefühlt und sein Vater hätte auf natürliche Weise seine Verantwortung ihm gegenüber wahrgenommen. Es wäre dann niemals zur Tötung des Vaters gekommen. 


Paul erlebt seine Abhängigkeit, die ihn mit jeder Faser seines Seins an seinen Vater kettet, als  ein lebensstrangulierendes Schicksal. Vor diesem Hintergrund kann er sich nicht zu einem selbstverantwortlichen jungen Mann entwickeln. Er würde vermeintlich erst dann zu einem selbstverantwortlichen jungen Mann, wenn es zur häuslichen Trennung mit seinem Vater käme. Aber das würde nichts an der Tatsache ändern, dass er bereits eine  tickende Zeitbombe ist. Denn sobald Paul sein Elternhaus verließe, würde sich sein abgespaltener Hass nicht mehr gegen seinen Vater, sondern gegen andere Sündenböcke richten. Aber das muss nicht so geschehen, wenn Paul in die Lage käme, das wahre Gesicht seines Vaters zu erkennen. Die Fähigkeit des Erkennens würden ihm dann seine authentischen aktuellen Gefühle und Emotionen ermöglichen.

 

© Michael Dressel 2/2007